Beschreibung des Bildes

Dieses Bild ist das letzte, das ich vor meinem dreißigsten Geburtstag gemalt habe. Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich zu diesem Anlass malen sollte. Welches Bild wäre der krönende Abschluss, die Zusammenfassung und Quintessenz meiner dreißig Lebensjahre? Wie ließe sich das fassen, in welche Rahmen bannen, mit welchem Kommentar umhüllen?! Auf all diese Fragen fand ich eine Antwort. Sie lautet: Das sind dumme Fragen. Ich male nicht, um zurückzublicken. Also schaute ich nach vorn, und dort sah ich, wie klein der Berg am Horizont ist, wie viele Schritte noch dorthin führen, wie viele Pfade und Biegungen ... es bleibt keine Zeit, um den Weg hinter mir zu betrachten! Also suchte ich mir das erstbeste Hindernis und begann, es zu überwinden. Über vierzig Rosa- und Gelbtöne. Alles im Voraus vorbereitet, damit ich die Farben nicht jeden Tag aufs Neue anmischen musste. Nach zwei Tagen Malen waren schon über 60 Pinsel im Einsatz. All das lastete mit jedem weiteren Tag schwer auf mir. Es kam mir vor, als würde ich in einem Wirrwarr aus Haaren versinken, als tauchte ich in die Textur der Haut ein und trotte durch ein enges Tal aus Falten, immer langsamer, und langsamer, und l a n g s a m e r ... Als ich mit dem Malen fertig war, wusste ich nicht, ob das, was ich gemalt hatte, gut ist. Ich hatte den Blick für dieses Bild verloren. Ich hörte auf, es zu sehen. Ich musste Luft holen, etwas freihändig malen, ohne mir über den nächsten Pinselstrich Sorgen zu machen, einfach so, direkt aus dem Kopf. Ich beschloss, ein Mandala zu malen. Ein paar Kreise und Symmetrielinien als Skizze, und der Rest: drauflos! Ich verdunkelte das Atelier und schaltete UV-Licht ein. Die Lippen des Mädchens auf dem Bild begannen zu leuchten; offenbar hatte der Hersteller zur Herstellung der roten Farbe etwas Ungewöhnliches verwendet. Von den Wänden und vom Boden traten weitere, immer schwächere, leuchtende Punkte hervor. Schließlich gewöhnte sich mein Blick an den ultravioletten Schimmer. Aus den Kopfhörern sickerte weißes Rauschen. Ich setzte Strich um Strich. Anfangs schnell, überlegt, die Verdichtung und Richtungen planend. Mit jeder Viertelstunde wurden die Pausen der Unbewusstheit länger. Von kurzen Aufblitzen am Anfang bis hin zu sekundenlangen Löchern in der Zeit. Mein Gehirn schaltete in diesen kurzen Momenten auf die Theta-Frequenz – seltsame Augenblicke, in denen man dem Getriebe hinter den Scheinwerfern der Augen lauschen kann. Kurze Worte, Melodien und unbestimmte Klänge – ich konnte ihnen zuhören. Ich musste nur ganz still sein. Ich durfte nicht wissen, dass ich lauschte. In solchen Momenten ist die Überzeugung unerlässlich, dass ich nicht mein Gehirn bin. Oder vielleicht stehe ich einfach still in seiner wenig begangenen Ecke und lausche dem Gewusel vergangener und zukünftiger Reize. Weitere Striche. Längere. Langsamere. Kaum wichtig. Einige davon habe nicht ich gezeichnet. Es ist wie dieses Gefühl, wenn du mit dem Auto irgendwohin fährst und plötzlich feststellst, dass du schon da bist, dich an den Weg aber eigentlich nicht mehr erinnerst (ich hoffe, das passiert nicht nur mir; wenn doch, muss ich meinen Führerschein abgeben). So wurde das Mandala gemalt. Teils überlegt, teils unbewusst. Das war das letzte Stück des Weges bis zu dem Meilenstein mit der Aufschrift DREISSIG JAHRE LEBEN. Ich blickte nicht zurück. Ich schaue zuversichtlich nach vorn.